Studie: Schwere Schulranzen schädigen Kinderrücken nicht (Teil1)

Kinder können problemlos Schulranzen tragen, die mehr als zehn Prozent ihres Körpergewichts wiegen. Das geht aus einer Studie der Universität des Saarlandes in Saarbrücken hervor, die am 20. August 2008 von dpa im Internet veröffentlicht wurde.

Günter Lehmann, Leiter der AG Prävention im Deutschen Verband für Physiotherapie - Zentralverband der Physiotherapeuten/Krankengymnasten (ZVK) weist auf seinen Seminaren und Vorträgen unermüdlich darauf hin, dass die Problematik Schulranzengewicht, aus dem Kontext gegriffen, nicht überbewertet werden darf. Es sei richtig, dass tatsächlich in den meisten Fällen, die Kinder nur wenige Minuten dem Schulranzengewicht ausgesetzt sind.

Was die Studie aber nicht berücksichtige, sei die Summe von belastenden Reizen für den Rücken, wie z.B.

  • lange Sitzzeiten schon morgens nach dem Aufstehen
  • ungünstiger Schulranzen, hohes Ranzengewicht, ungünstige Trageweise
  • lange Sitzzeiten in der Schule
  • lange Sitzzeiten bei den Hausaufgaben
  • lange Sitzzeiten in der Freizeitbeschäftigung
  • Bewegungsmangel während und nach der Schule
  • schlechter Trainingszustand

Der Leiter der AG Prävention im ZVK empfiehlt die Problematik differenzierter zu betrachten. In diesem Sinne sollte eine Studie auch zwischen den Beanspruchungsfaktoren gut trainierter und nicht gut trainierter Kinder unterscheiden. So könnten innerhalb einer Studie zwei Gruppen gebildet werden. Die einwirkenden Belastungsfaktoren Schulranzengewicht und Schulweg müssten für beide Gruppen gleich sein. Während die Schülergruppe A, bedingt durch regelmäßige Sport- und Bewegungsaktivitäten in der Freizeit einen gut trainierten Zustand aufweisen sollte, müsste die Schülergruppe B aus Kindern bestehen, die in ihrer Freizeit vorzugsweise bewegungsarmen Tätigkeiten nachgeht. Insgesamt sollten die Kinder der Gruppe B auch weniger gut trainiert sein. Die Kinder der Gruppe A würden weiterhin im Rahmen des Projektes eingewiesen, wie ein Schulranzen am Günstigsten getragen werden kann. In der Gruppe B gebe es dagegen nur die Empfehlung den Schulranzen nach eigenem Wohlbefinden zu tragen.

Zur Ermittlung des Ausgangsniveaus des Trainingszustandes, könnten beispielsweise die von Prof. Bös und der Uni Karlsruhe entwickelten motorischen Testverfahren für Kinder verwendet werden, so Lehmann. Einige dieser Teste wurden auch beim Kinder- und Jugendsurvey (Kiggs) des Robert Koch Instituts verwendet. Die Hypothese einer solchen Studie würde darauf aufbauen, dass die Beanspruchungsfaktoren auf Grund der Trageweise des Schulranzens (Arbeitstechnik) und des Trainingszustandes ggf. unterschiedlich sind. Dabei würde man das Belastungs- und Beanspruchungsmodell nach Laurig zu Grunde legen, betont Lehmann. Dieses Modell beschreibt, dass bei gleich einwirkenden Belastungsfaktoren, wie z.B. Gewicht, Weg und Zeit, die auf dem Körper einwirkenden Beanspruchungsfaktoren geringer sind, wenn die handelnden Personen unterschiedliche Trainingszustände und Arbeitstechniken verwenden.

Lehmann konnte bei Schulranzen - Aktivitäten innerhalb der „Bewegten Schule“ feststellen, dass Kinder, die gelernt haben den Schulranzen günstig zu tragen, weniger z.B. über Nackenprobleme klagten, als Schüler, die diese Kompetenz nicht besaßen. Wenn der Riemen drückt, der Schulranzen zu hoch angezogen wurde, die Nackenfreiheit eingeschränkt war, entstanden schneller Verspannungen und Schmerzen im Schulter-, Nacken-, Kopfbereich.

Insgesamt sollte die wissenschaftliche Fragestellung nicht nur auf das Ranzengewicht reduziert werden. Bei dieser Art von Studien hat Lehmann Bedenken, dass die Verantwortlichen Aufsehen erzeugen und Schlagzeilen produzieren möchten. Nach dem Motto „schwere Ranzengewichte sind doch gar nicht so schlimm“. Daher plädiert der Leiter der AG Prävention im ZVK für eine differenzierte Betrachtungsweise, bzw. einen differenzierteren Forschungsansatz, statt pauschaler Betrachtungsweise.

Sabine Kreuder, Mitglied des Wissenschaftsrates der AG Prävention im Deutschen Verband für Physiotherapie - Zentralverband der Physiotherapeuten/Krankengymnasten (ZVK), warnt vor dem Rückschluss: „Nun müssen wir auf das Ranzengewicht nicht mehr achten, es schadet ja nicht!“

Die Forschung stecke insgesamt noch in den Kinderschuhen und lasse solche einfachen Schlüsse nicht zu, so Kreuder. Nach der zitierten Studie verändere sich bei schwerem Ranzen nicht die Haltung. Ob dies kausal spätere Wirbelsäulenbeschwerden verhindert, kann anhand der Ergebnisse nicht eindeutig vorhergesagt werden, betont Kreuder.

Die European Guidelines For Prevention In Low Back Pain (2004) formulieren:

  • Es ist keine konsistente wissenschaftlich abgesicherte Aussage möglich, ob bzw. welches Ranzen-Gewicht Rückenschmerz verhindert
  • Keine Tragemethode, kein Schulranzentyp ist zu empfehlen

Die Guidelines besagen auch: Aus physiologischer Sicht könnten schlechte Lebensgewohnheiten, langes Sitzen, nicht angepasste Möbel eine Rolle für die Entstehung von Rückenbeschwerden spielen. Studien zur Effektivität von schulbasierten Programmen sind dringend erforderlich.

Weitere Forschung ist nach den Auffassungen von Günter Lehmann und Sabine Kreuder unerlässlich. „Solange man nicht genau weiß, wie es besser ist, sollte das subjektive Belastungsempfinden des einzelnen Kindes eine Rolle spielen.“

Quelle: ZVK,